Welturaufführung beim Reeperbahn-Festival: Pop, Punk, Hip-Hop und Klassik gehen bei Matthias Arfmann eine gelungene Verbindung ein. Der Beginner-Produzent im Interview mit Songwriterin und Sängerin Onejiru sowie Musiker Peter Imig über das gemeinsame Projekt Ballet Jeunesse. Interview Matthias Greulich.
Herr Arfmann, am 9. September ist Ihr Album „Ballet Jeunesse“ erschienen. Hamburgs Ballettdirektor John Neumeier haben Sie die Platte bereits vorgespielt. Was hat er dazu gesagt?
Matthias Arfmann: Es war wie eine Begegnung der unbekannten Art. Eine unheimliche Wertschätzung hat er uns gegenüber an den Tag gelegt. Er hat uns gesagt, dass es gut gemacht ist, was wir da machen. John Neumeier hat immer wieder auf die Liste der Songs geschaut, hochgesehen und gefragt: Wie haben Sie die Genehmigungen dafür erhalten? Als eine Koryphäe, der all diese Werke kennt, weiß er, dass es eigentlich nicht geht. Das hat ihn erstmal beeindruckt, dann hat er uns aber doch klar zu verstehen gegeben, dass er als Choreograph für so etwas nicht in Frage kommt, weil er sich immer am Original orientiert. Ballet Jeunesse ist zu sehr Pop. Trotzdem haben wir von ihm Wertschätzung bekommen. Das war toll.
Sie bezeichnen die Fertigstellung des Albums als Erfüllung eines Traums. Am 21. September findet die Welturaufführung mit den Hamburger Symphonikern in Schmidts Tivoli im Rahmen des Reeperbahn-Festivals statt.
Onejiru: Ich habe noch keine Vorstellung wie es sein wird. Tatsächlich waren wir neulich in der Laeiszhalle und haben uns das Orchester angehört. Ich habe jeden angegrinst, nach dem Motto: Wir sehen uns bald wieder. Was die Musiker in diesem Moment noch nicht wussten. Ich lasse mich total überraschen und hoffe, dass die Angst nicht so groß ist, dass ich es nicht genießen kann. Das ist zumindest der Plan.
Matthias Arfmann präsentiert Ballet Jeunesse (EPK) from BALLET JEUNESSE on Vimeo.
Warum haben Sie die russische Ballettmusik ausgewählt, die vor etwa 100 Jahren entstanden ist?
Peter Imig: Es sind faszinierende Werke. Musikalisch ist es sehr rhythmisch. Es ist sehr groß besetzt, es sind unglaublich viele Instrumente. Eine größere Besetzung gibt es gar nicht. Und von der Zeit der Entstehung sehe ich eine Parallele zu der neuen Welt der Computer, die uns umgibt. Das war damals auch so. Und zwar haben die Maschinen die Arbeitswelt verändert. Die Leute fingen an, im Flugzeug zu fliegen. Die ganzen Zukunftsvisionen der technischen Welt sind ähnlich wie heute.
Onejiru: Ich erinnere mich daran, als ich nach Deutschland gekommen bin. Meine Geschwister und ich sprachen noch kein Deutsch. Die größte Angst meiner Mutter war, dass wir draußen abhängen, das war für sie der Horror. Wir sind in Wanne-Eickel im Ruhrpott gelandet. Es gab nicht so viele Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Wir haben in einer Sonntagszeitung Kids gesehen, die an einer Stange standen und sind dort hingefahren. Als die Ballettlehrerin meine drei Schwestern und mich sah, war sie begeistert. Von da an haben wir alles getanzt. Als wir mit Ballet Jeunesse begannen, fiel mir wieder ein, dass ich schon Schwanensee getanzt habe.
Herrr Arfmann, als Musiker sind mit den Kastrierten Philosophen Anfang der 1980er-Jahre im Punk sozialisiert worden. Ist die Herangehensweise bei Ballet Jeunesse Punk?
Arfmann: Ich finde schon. Es ist die Haltung und so ein bisschen der Mut dazu. Punk ist 2016 anders als 1977. Jemanden vorsätzlich in die Suppe spucken, das ergibt hier keinen Sinn. Das wäre Aufschneiderei.
Ist es ein Remix der Balletwerke?
Es ist eher Rework, also eine Neubearbeitung. Wir haben am Ende mit dem Babelsberger Filmorchester alles neu eingespielt. Aber unsere erste Version war ein Remix, den wir den Rechteinhabern vorstellen mussten. Den noch lebenden Erben, Plattenfirmen, Musikverlagen, Orchestern und Dirigenten. Nach der Freigabe, die Jahre gedauert hat, haben wir es komplett neu eingespielt. So wie wir uns die Dramaturgie vorgestellt haben, und es mit eigenen Instrumenten und Harmonien ergänzt.
Ihre Version des Feuervogels von Igor Stravinski ist auf ein Viertel verdichtet. Hat das mit der kürzeren Aufmerksamkeitsspanne in der heutigen Zeit zu tun?
Es gibt Marktforschung, dass man bei Videos nach anderthalb Minuten aussteigt. Bei Musik ist es zum Teil noch kürzer. Das muss man alles missachten. Im Feuervogel beginnt Onejiru erst nach zwei Minuten zu singen. Das ist dem Werk, der Dramaturgie und dem Arrangement, das wir über Jahre gefunden haben, geschuldet. Die üblichen Popmusikstrukturen funktionieren nicht bei jedem Rework eines klassischen Werks.
Imig: Ich erinnere mich, dass uns die Eltern immer sonntags ins Abonnementkonzert des NDR Orchesters mitnahmen. Ich habe mich immer auf den dritten Satz einer Sinfonie gefreut, weil das dann immer der schnelle Satz war. Diese Durststrecken zu überstehen war für mich immer schwierig bei klassischer Musik als Kind.
Onejiru: Die Hörer stellen sich möglicherweise gar nicht die Frage, welche Passage aus Nussknacker sie hören. Es ist ja keine mathematische Gleichung. Es ist Musik. Wir hatten Besuch von einem Freund aus Uganda. Er kannte die klassischen Werke nicht und hat die Platte richtig abgefeiert. Ihm ging es darum, dass es sich gut anhört.
Arfmann: Ein hoch gebildeter Mann, der aber nicht mit Klassik sozialisiert wurde. Es kann durchaus befreiend sein, die Werke nicht zu kennen.
Es sind einige Gäste dabei. Konnten Sie einschätzen, wie das funktioniert?
Man weiß vorher nicht, ob es klappt. Das ist wie beim Pferdetoto. Als ob man fünf Euro auf Arabesque setzt. Um bei diesem bunten Bild zu bleiben: Der Rennstall, also Gestüt Schlenderhan, war schon definitiv vorher am Start. Ich wusste ganz genau, was die einzelnen Leute auszeichnet. Und dass Onejiru in der Lage ist, eine weitere explizit politische Ebene, obendrauf zu schreiben mit ihren Texten.
Wer ist alles auf dem Album vertreten?
Kele Okereke, der neben Bloc Party noch sein Soloprojekt hat, war ein Volltreffer. Weil wir alle seine Stimme so lieben, wie er diese Tradition aus den Achtzigerjahren angefangen von Robert Smith von The Cure weitergeführt hat. Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen ist auf Säbeltanz vertreten, das diesen Punk-Charme hat. Und bei Jan Delay mit seiner markanten Stimme war ich daran interessiert, dass da vielleicht noch jemand ist, der Peter und der Wolf so sprechen kann wie Karlheinz Böhm, mit dem wir alle groß geworden sind. Dass wir unseren eigenen Karlheinz Böhm einladen.
Mit Jan Delay haben Sie in Ihrem Studio Turtle Bay Country Club in Neuenfelde bereits sein erstes Sololabum aufgenommen.
Die sehr intensive Abgeschiedenheit in Neuenfelde war für Ballet Jeunesse ideal. Aber es war sehr knapp, weil wir das Studio wegen der Eigenbedarfskündigung des Vermieters in diesem Frühjahr verlassen mussten.
Im CD-Booklet bedanken Sie sich bei Claudio Pizarro vom SV Werder Bremen. Warum?
Ich bin ein reifer Musikproduzent. Die Bubeníček-Brüder, die bei uns im Video tanzen, sind die Klitschkos des Ballett. Sie sind am Ende ihrer Karriere, weil alle Knochen schon mal kaputt gegangen sind. So gibt es einen roten Faden für mich zu Claudio Pizarro, der schon fast über das Ende seiner fußballerischen Karriere hinaus ist. Es geht um eine gewisse Virtuosität und die Reife. Ich glaube ein paar Sachen kann man nur, wenn man so etwas schon mal gemacht hat. Und man muss Claudio Pizarro einfach nennen, wenn man als Werder-Fan in Neuenfelde mitten im HSV-Land lebt.
Ballet Jeunesse
Matthias Arfmann gründete 1982 die Punkband Kastrierte Philosophen. Später wurde er einer der gefragtesten Produzenten des Landes. 1998 produzierte in seinem Studio in Neuenfelde das Album „Bambule“ von den damals noch Absoluten Beginnern, das als Meilenstein des deutschsprachigen Hip-Hop gilt. Bis heute arbeitet Arfmann mit Jan Delay und den Beginnern zusammen, deren Manager er ist.
Onejiru ist Sängerin, Musikerin, Aktivistin, Moderatorin und Diplom-Geographin in Hamburg. Sie arbeitet derzeit an ihrem zweiten Soloalbum.
Peter Imig komponiert Musik
für Theater, Film und Fernsehen. Der gebürtige Heimfelder lebt als freiberuflicher Band und Orchestermusiker in der Lüneburger Heide.
❱❱ www.matthias-arfmann.com
Reeperbahn-
Festival
Matthias Arfmann & die Hamburger Symphiker präsentieren „Ballet Jeunesse“ Mittwoch, 21. September,
21.30 Uhr, Schmidts
Tivoli, Spielbudenplatz 27
❱❱ www.reeperbahnfestival.com
Einer der gefragtesten Produzenten im Land: Matthias Arfmann (52). Foto: Gulliver Theis/decca
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