Verkehrsforscher Christoph Aberle hat untersucht, wie Menschen mit wenig Geld mobil sein können. Welche Verbesserungen bringt dabei das Deutschlandticket?
Aberle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der TU Hamburg. Er hat zwischen 2018 und 2020 für das Projekt MobileInclusion unter anderem im Osdorfer Born geforscht: www.mobileinclusion.de
Aberles aktuelle Untersuchung zum Deutschlandticket finden Sie auf www.WasBringt49.de
Herr Aberle, Sie haben erforscht, wie sich Menschen in Armut im öffentlichen Nahverkehr einschränken müssen und von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Was verändert sich durch das Deutschlandticket für die Menschen in Lurup und dem Osdorfer Born, mit denen Sie gesprochen haben?
Christoph Aberle: Es ändert sich ganz konkret, dass die Mobilität nicht mehr durch den Tarif begrenzt wird. Wir haben in den Interviews in Hamburg regelmäßig gehört: „Ich habe ein Problem damit, mit meinem Geld über den Monat zu kommen. Und deshalb muss ich extrem aufs Geld schauen, wenn ich mir eine HVV-Karte ziehe.“ Und dieses Problem ist seit dem 1. Mai nicht mehr vorhanden.
Ich nehme an, dass alle unsere Befragten sich das rabattierte Deutschlandticket für 19 Euro kaufen werden. Dann haben sie zunächst die gleichen Mobilitätsoptionen wie bisher. Ich würde sagen, das ist zunächst das Wichtigste: Sie können ihre gewohnten Wege zurücklegen, ohne aufs Geld achten zu müssen. Und als Zusatz bekommen sie die deutschlandweite Mobilität obendrauf.
Sie bezeichnen das Ticket in Nahverkehr Hamburg als „wirkliche Revolution“. Was sind die größten Fortschritte?
CA: Das ist zunächst die Einfachheit. Wenn ich zu meinem Onkel in den Raum Stuttgart fahre, kann ich auch am Ziel in den Linienbus einsteigen, ohne mir Sorgen zu machen, die falsche Fahrkarte gezogen zu haben. Außerdem ist natürlich der Preis ein wichtiger Aspekt. Für den Großteil der bisherigen Abonnentinnen rechne ich damit, dass der Preis deutlich günstiger wird, zumal sie potenziell ganz Deutschland befahren können.
Allerdings möchte ich anmerken, dass die Einfachheit nicht ganz für alle gilt. Erst gestern habe ich mit jemandem ein Deutschlandticket gebucht, der ohne Papiere hier lebt. Zum Ticket muss er, wie wir alle, einen Ausweis vorlegen. Im schlimmsten Fall führt eine Fahrscheinkontrolle für ihn zur Abschiebung. Klar profitiert die deutliche Mehrheit von der neuen Einfachheit – aber Menschen in bestimmten Lebenslagen haben es weiterhin unnötig schwer.
Hat der Hamburger Senat und die Bürgerschaft auf den Rat der Wissenschaftler gehört, als sie den Sozialtarif beim Deutschlandticket beschlossen hat?
CA: Mit dem 19-Euro-Sozialticket hat die Politik die wichtigste Empfehlung umgesetzt. Wir hatten ein 365-Euro-Ticket für Bedürftige empfohlen, und das Sozialticket kostet jetzt 228 Euro im Jahr. Das ließe sich natürlich direkt unserer Studie zuschreiben, so weit würde ich aber nicht gehen. Gewissermaßen hat uns der Hamburger Senat mit dieser Entscheidung rechts überholt, was ich anerkennend sagen kann.
Allerdings bin ich gespannt, wie sich der Preis mittelfristig entwickelt. Für zwei Jahre hat der Bund die Finanzierung des Deutschlandtickets zugesagt, und dann wird es vermutlich teurer.
Extravagante Fahrziele waren bei den von Ihren Befragten die Ausnahme, oder?
CA: Da verweise ich auf unsere Erhebung zum Neun-Euro-Ticket, die wir letztes Jahr gemacht haben. Wir fragten, ob sich das Mobilitätsverhalten geändert habe. Viele Befragte sagten uns: „Eigentlich nicht. Ich fahre dieselben Wege wie bisher. Aber ich muss mich nicht mehr ums Geld kümmern. Das ist der ganz tolle Vorteil. Und deshalb mache ich die Wege vielleicht ein bisschen häufiger, aber so richtig neue Ziele fahre ich kaum an.“
Gab es Ausnahmen?
CA: Es gab eine Frau, Anfang 30, mit einer Gehbehinderung, die als Migrantin nach Deutschland gekommen war. Sie sagte: „Ich war eigentlich drei Monate lang nur auf Achse. Es war unglaublich, welche Freiheit mir dieses Angebot beschert hat. Ich kann das gar nicht in Worte fassen.“
Wichtiger als die Häufigkeit der Busabfahrten war für die Befragten in Osdorf und Lurup, wie viel Geld sie für den HVV ausgeben müssen.
CA: Genau. Es gab vereinzelt Kritik, weil Busse zu voll sind, aber bei unserer Befragung stand eindeutig der Preis im Vordergrund. Ich könnte mir vorstellen, dass das Ergebnis anders ausfällt, falls wir die Befragung in zwei Jahren wiederholen. Wenn der Preis dank Sozialticket wirklich kein Problem mehr ist, könnte es sein, dass andere Qualitäten des ÖPNV kritischer angesehen werden.
Christoph Aberle von der TU Hamburg
Foto: Carolin Büttner
Sie beschreiben einen Vertrauensverlust in Steilshoop und Osdorf durch das nicht erfüllte Schienenversprechen.
CA: Das haben wir von einzelnen Personen gehört, die sich schon länger mit Verkehrsthemen befassen. In Steilshoop hat man die Siedlung ja um die Schiene herumgeplant. Noch 1969 wurde die Wohnkapazität nachträglich um die Hälfte erhöht, weil die U-Bahn geplant war – aber dann kam die Ölkrise und die U-Bahn wurde kassiert. Und plötzlich stand dort eine Großwohnsiedlung ohne Schienenanbindung, das hinterlässt natürlich eine Enttäuschung. Auch die Siedlung im Osdorfer Born hat ja ihre Geschichte mit Schnellbahn-Planungen, die dann nicht realisiert wurden. Deswegen gibt es bei einigen Befragten die Wahrnehmung: „Wir sind nicht so wichtig wie andere Stadtteile.“
Warum spielt das Fahrradfahren für ärmere Menschen kaum eine Rolle, obwohl es doch kostengünstig ist?
CA: Die Gründe sind ganz banal: Das Fahrrad wurde geklaut. Das Rad ist kaputtgegangen und man weiß nicht, wie man es reparieren kann oder hat kein Geld für einen neuen Fahrradschlauch. Alles Gründe, die vermeidbar wären, wenn ein bisschen mehr Geld da wäre, oder wenn jemand da wäre, der einen dabei unterstützt, das eigene Fahrrad wieder in Schuss zu bringen.
Sind Beratungsangebote sinnvoll?
CA: Man könnte eine Mobilitätsberatung im Quartier anbieten. Bei einer Institution, die eine Rolle im Alltag der Betroffenen spielt.
Was hat es mit dem kleinräumigen Busverkehren in den USA auf sich, die dort Menschen mit wenig Geld mobiler machen?
CA: Sie beziehen sich auf meine Aussage im Mobilitäts-Talk von NahverkehrHAMBURG. Für US-Metropolen wissen wir, dass Buslinien besonders von Minderheiten und von Bevölkerung in Armut genutzt werden. Konkret haben arme Menschen kürzere Alltagswege und kleinere Aktionsräume als viele Berufstätige. Sie pendeln nicht viermal die Woche ins Büro, sondern organisieren ihre Versorgung vor Ort, etwa um Kinder in die Kita zu bringen, Einkaufen zu fahren oder Freizeit zu verbringen. Dafür eignen sich die erschließenden Busverkehre viel besser als die großen Regionalverbindungen. Und dementsprechend werden sie anteilig häufiger von Menschen in Armut genutzt.
Wäre das mit Quartiersbussen vergleichbar, wie sie von Bezirkspolitikern für Osdorf und Lurup vorgeschlagen wurden?
CA: Ich will das nicht auf ein Betriebskonzept festlegen. Auf Hamburg übertragen könnte es genauso gut eine Metrobuslinie sein. Die erschließt den Raum ja auch deutlich kleinteiliger als eine U-Bahn.
Sie haben in Ihrer Studie herausgefunden, dass das Angebot im öffentlichen Nahverkehr in Steilshoop und dem Osdorfer Born nicht schlechter als in anderen Stadtteilen ist. Das wirkt überraschend, wenn man bedenkt, dass 20 Prozent in Osdorf und 17 Prozent in Lurup weiter als 400 Meter von der nächsten Bushaltestelle entfernt leben und oft umsteigen müssen.
CA: Wir haben keine schlechte Versorgung in den Großwohnsiedlungen feststellen können. Allerdings muss man natürlich in Betracht ziehen, dass deutlich mehr Menschen im Osdorfer Born leben als in Bramfeld. Dementsprechend ergibt sich eine viel größere gebündelte Nachfrage in den Großwohnsiedlungen.
Wie haben Sie das gemessen?
CA: Vereinfacht gesagt haben wir für jede Haltestelle auf der Landkarte einen Punkt gesetzt und geschaut, wie viele Menschen in ihrem Einzugsgebiet leben. Anschließend haben wir den Einzugsgebieten die Abfahrten zugewiesen. Von den jeweiligen Wohnlagen aus haben wir gezählt, wie viele Abfahrten in der näheren Umgebung stattfinden. Das Ganze haben wir zu einem ÖPNV-Index zusammengefasst.
Was erinnern Sie noch besonders aus der Forschung in Osdorf?
CA: Mir ist in Erinnerung, wie präsent das Thema einigen Menschen im Stadtteil ist. Und damit meine ich nicht nur diejenigen, die wir befragt haben. Beim „Klinkenputzen“ im Bürgerhaus bin ich direkt in einer Sitzung der Verkehrs AG gelandet. Da war ich genau richtig: Die Teilnehmenden befassten sich genau mit den Themen, die wir drei Jahre beforschen würden. Ich war beeindruckt, wie firm die Bürgerinnen und Bürger beim Thema Verkehr sind.
Haben Sie vom Kunstwerk „Zukunft bleibt!“ gehört? 18 Stelen stellen an der Bornheide einen symbolischen Eingang einer Schnellbahnhaltestelle dar. Was halten Sie als Verkehrsforscher davon?
CA: Ich bin ein großer Freund von Kunst im öffentlichen Raum. Wenn es Themen gibt, die den Bewohnerinnen und Bewohnern unter den Nägeln brennen, dann ist das ein hervorragendes Mittel, um die Politik mit einem Augenzwinkern darauf hinzuweisen.
Was hat sich für Ihre wissenschaftliche Arbeit für Ihre weitere Forschungsarbeit durch das Deutschlandticket verändert?
CA: Bislang war meine Doktorarbeit auf der Argumentation gegründet: Wir müssen die Teilhabe von Menschen in Armut sicherstellen und ein wesentlicher Punkt davon ist der Bartarif. Nachdem die Bundesregierung jetzt einen Pauschaltarif anbietet, der in Hamburg sogar nur 19 Euro im Monat kostet, dann ist das wunderbar für die Betroffenen, aber mir als Forscher entzieht das gewissermaßen die Arbeitsgrundlage – sage ich mit einem Augenzwinkern. Denn eigentlich freue ich mich über diese Entwicklung. Dann muss ich eben meine Forschungsfrage weiterentwickeln.
Beim Bartarif ist auch noch etwas zu tun: Das HVV-Einzelticket für 3,50 ist bundesweit nach wie vor das teuerste seiner Art.
CA: Hamburg stand oft in der Kritik, einen vergleichsweise teuren Nahverkehr anzubieten. Es ist ein bundesweites Phänomen, dass der Nahverkehr über der Inflation teurer geworden ist, während der Kauf und Betrieb von Pkw stabil geblieben sind.
Welche Reform halten Sie bei den verbleibenden HVV-Einzelkarten für sinnvoll?
CA: Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre das ein Bartarif zusätzlich zum Deutschlandticket, der einer einfachen Logik folgt. Gerade orientiert sich der Tarif ja an den Zahlgrenzen, die nicht überall ganz intuitiv sind. Berlin macht es einfacher: Ich darf auf der Kurzstrecke drei Stationen Schnellbahn fahren und umsteigen. Oder ich darf sechs Stationen Tram oder Bus fahren und nicht umsteigen. Interview Matthias Greulich
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