Als Wilhelm Simonsohn erfuhr, dass sein Vater Jude war, war er so alt, wie die Schüler, denen er heute aus seinem Leben berichtet. Einmal im Monat besucht Simonsohn als Zeitzeuge Schulen in Hamburg und Umgebung. „Es scheint für die Jungen nicht alltäglich zu sein, dass da ein 99-Jähriger zu ihnen kommt“, sagt er. Im Oktober war sein Schulbesuch noch ungewöhnlicher: Ein japanisches Fernsehteam drehte, als Simonsohn bei einer elften Klasse der Geschwister-Scholl-Stadtteilschule zu Gast war.
Die Journalisten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens interviewten ihn in seiner Wohnung in Bahrenfeld und fuhren zu seinem nahe gelegenen Elternhaus, vor dessen Eingang ein Stolperstein an seinen Vater erinnert. Die Japaner begleiteten ihn in die Luthergemeinde, deren Pastor Andersen ihm 1934 eröffnete, dass er einen jüdischen Vater habe. Leopold Simonsohn und seine Frau Bertha hatten Wilhelm mit zwei Jahren in einem Waisenhaus adoptiert. Der angesehene Kohlenhändler war zum Christentum konvertiert, kämpfte als Soldat im Ersten Weltkrieg und dachte deutschnational. Nach den Nürnberger Rassengesetzen der Nazis wurde er dennoch als Jude verfolgt. Stammkunden wie die Zigarettenfabrik Reemtsma, die Elektromaschinenfabrik Gustav Altmann und selbst die Bahrenfelder Kirchengemeinde boykottierten sein „Steenkamper Kohlenlager“. Dadurch geriet die Familie in Geldnot. Die Simonsohns mussten das Reihenhaus in der Ebertallee 201 verlassen und zogen in eine kleine Wohnung nach Altona. Weil sie das Schulgeld von monatlich 20 Reichsmark nicht mehr aufbringen konnten, musste Wilhelm das Altonaer Real-Gymnasium verlassen. Er trat aus der Marine-Hitlerjugend aus, wo er als „Judenlümmel“ beschimpft worden war. „Noch heute versetzt es mich in Erstaunen, dass ich als 15-Jähriger so handelte“, so Simonsohn heute.
Mit dem neun Monate älteren Helmut Schmidt hat er diese Episode bei einem Treffen im Frühjahr 2012 besprochen. Schmidt hatte die Marine-Hitlerjugend ebenfalls im Streit verlassen. Der Altbundeskanzler hatte Simonsohns Buch „Ein Leben zwischen Krieg und Frieden“ mit großem Interesse gelesen und den Jüngeren eingeladen. „Helmut Schmidt war bei unserem Treffen gar nicht arrogant, wie man es ihm gerne nachsagte. Eher das Gegenteil“, sagt Simonsohn.
Schmidt wollte vom Gast aus Bahrenfeld wissen, wie er an den Nachweis seiner „arischen Abstammung“ gekommen sei, obwohl er seinen leiblichen Vater nie kennengelernt hatte. „Ich konnte ihm vom Besuch im Altonaer Gesundheitsamt erzählen, wo sogar mein Kopf vermessen wurde!“ Das amtsärztliche Gutachten bescheinigte ihm, dass keinerlei Anzeichen für einen „nicht-arischen Einschlag“ bestünden.
Mit diesem Gutachten stand Simonsohns Einberufung nichts im Wege. Im November 1938 bekam der Rekrut ein Telegramm seiner Mutter: „Sie haben Vater abgeholt“. Sein Vorgesetzter gewährte ihm Sonderurlaub. In Wehrmachtsuniform und mit dem Orden seines Vaters sprach er im Büro des Gauamtsleiters vor, um die Entlassung seines Vaters aus dem KZ Sachsenhausen zu erreichen. Nach vier Wochen kam Leopold Simonsohn frei. Doch er war ein gebrochener Mann. Er starb am 10. Dezember 1939 an den Spätfolgen der Haft.
Wilhelm Simonsohn ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, der als Soldat am Überfall auf Polen 1939 teilnahm. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde der Luftwaffenpilot zweimal abgeschossen. „Drei weitere Male hielt der liebe Gott bei Bruchlandungen seinen Daumen zwischen Leben und Tod“, sagt Simonsohn, der durch die Erlebnisse bei der Luftwaffe zum Pazifisten wurde.
Mit großem Vergnügen berichtet der brillante Erzähler den Schülern von den Lehren, die er aus der Geschichte gezogen hat. „Ich war immer Wechselwähler“, berichtet er. Als politisch interessierter Mensch macht sich Wilhelm Simonsohn Sorgen, dass „unser Europa wieder Schlagseite kriegt. Schließlich ist es diesem Europa zu verdanken, dass wir seit 73 Jahren mit unseren Nachbarn in Frieden leben“.
Matthias Greulich
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