Heftige Kritik an Roger Kusch gab es schon lange – neu ist, dass die Entscheidungen des Justizsenators auch von Hamburger Gerichten als gesetzeswidrig gebrandmarkt werden. Reinhold Roth, 63, Vorsitzender Richter einer Strafvollstreckungskammer am Landgericht Hamburg, erklärt, warum die Hamburger Strafvollzugspolitik Juristen und andere Experten empört. Interview Matthias Greulich
Herr Roth, Sie werfen Justizsenator Roger Kusch vor, mit seiner Strafvollzugspolitik das Gesetz zu brechen.
Die vom derzeitigen Justizsenator vorgenommene Umpolung des Strafvollzuges vom Resozialisierungsvollzug zu ständig vermehrtem Verwahrvollzug ist nicht nur gesetzes-, sondern sogar verfassungswidrig. Eine solche Verfahrensweise ist für einen Justizsenator, der einen Amtseid auf die Wahrung der Verfassung und der Gesetze geleistet hat, besonders beschämend. Zudem ist Dr. Kusch ersichtlich weder rechtlich noch fachlich ansprechbar.
Warum verstößt der veränderte Umgang mit Straftätern gegen das Grundgesetz?
Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder betont, dass die Resozialisierung das vorrangige Ziel des Strafvollzuges ist. Dieses leitet sich unmittelbar aus den Verfassungsgrundsätzen der Menschenwürde und des Sozialstaats ab. Jedem Gefangenen kommt ein grundrechtlicher Anspruch auf Resozialisierung zu. Dabei geht das höchste Gericht der Bundesrepublik davon aus, dass die Resozialisierung viel besser als ein Verwahrvollzug dafür geeignet ist, Rückfalltaten wirksam vorzubeugen und damit vermehrt künftige Tatopfer zu vermeiden. Auf Grund dieser Rechtsprechung ist 1976 das Strafvollzugsgesetz einstimmig im Bundestag verabschiedet worden, das bis heute unverändert als alleiniges Vollzugsziel die Resozialisierung, d.h. das nachhaltige Bemühen um die Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft, vorschreibt.
Was hält der Justizsenator von der Resozialisierung?
Offensichtlich nichts, Herr Dr. Kusch hat auf einer Fachbesprechung mit den für den Strafvollzug zuständigen Richtern betont, dass ihm der Vorrang der Resozialisierung nicht über die Lippen komme. In Presseinterviews hat der Justizsenator in populistischer Weise wiederholt betont, dass Haft wieder als Haft spürbar sein müsse und kein Luxusurlaub sein dürfe. Mit der gesetzwidrigen Ausrichtung des Strafvollzuges zu immer mehr Verwahrvollzug steht Dr. Kusch nicht nur rechtlich, sondern auch fachlich im Abseits. Unter Kriminologen und anderen Fachleuten ist es völlig unstreitig, dass allein Resozialisierungsmaßnamen die Rückfallquote senken können und damit vermehrt künftige Opfer schützen können. Umgekehrt ist es wissenschaftlich belegt, das ein Verwahrvollzug nicht durch Abschreckung die Kriminalitätsrate senkt, sondern diese vielmehr durch die ausgebliebenen Wiedereingliederungsmaßnahmen für die Gefangenen erhöht. Zwar kann auch ein guter Resozialisierungsvollzug nicht alle Gefangenen sofort durchgreifend bessern. Wissenschaftliche Erkenntnisse besagen aber, dass ein solcher Vollzug die Rückfälligkeit von Tätern um 15 bis 20 Prozent senkt. Eindeutiger Spitzenreiter im Sinne eines wirksamen Resozialisierungsvollzuges war die bisherige Hamburger Sozialtherapie.
Die Sozialtherapie soll nun in die geschlossene Großanstalt Fuhlsbüttel mit über 1000 Gefangenen verlegt werden.
Damit wird das Herzstück des Hamburger Strafvollzuges zerschlagen. Herr Dr.Rehn, einer der Väter der Sozialtherapie mit bundesweiter Reputation hat erschüttert festgestellt, dass hier durch einzigen Mann eine radikale Politik zum Nachteil Hamburgs umgesetzt wird. Mit der bisherigen Sozialtherapie in Hamburg hatten wir mustergültige Anstalten, kleinere Einheiten mit Fachleuten, die bundesweit vorbildlich, zum Teil seit über 35 Jahren Herausragendes zum Schutze potentieller Opfer geleistet haben und sich auch vom Kostenaufwand im Rahmen gehalten haben.
Der Senat will mit dieser Entscheidung Kosten senken. Lassen Sie dieses Argument gelten?
Die jetzt zu erwartenden Einspareffekte sind minimal und überhaupt nicht aufzuwiegen mit dem Unheil, das durch die Verlagerung der Sozialtherapie in eine Großanstalt des geschlossenen Vollzuges, in der naturgemäß eine sozialtherapeutisches Behandlungsklima nicht herstellbar ist, angerichtet wird. Professor Berner, der Leiter der Sexualpsychiatrie am UK Eppendorf, hat zu Recht betont, dass die bisher in Hamburg in kleinen Anstalten praktizierte Sozialtherapie unverzichtbar ist, zumal es hier vorrangig um eine effektive Behandlung gerade der gefährlichen Täter geht. In einigen Jahren werde man wieder zurückrudern müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Im Übrigen liegt mit der geplanten Verlagerung der Sozialtherapie in die Großanstalt Fuhlsbüttel abermals ein Gesetzesverstoß von Dr. Kusch vor, weil das Strafvollzugsgesetz vorschreibt, dass der sozialtherapeutische Vollzug grundsätzlich in eigenen Anstalten durchgeführt werden soll.
Warum regt sich in der Bevölkerung kein größerer Widerstand gegen diese Politik?
Das Stimmungsbild in der Öffentlichkeit zum Umgang mit Straftätern hat sich in den letzten zehn Jahren radikal verändert. Das liegt nicht nur allein an der Berichterstattung über Pannen im Strafvollzug, die es leider hin und wieder gibt. Das Gesamtklima in der Gesellschaft ist derzeit durch die hohe Arbeitslosigkeit, durch die von Terroranschlägen ausgehende Bedrohung und damit ganz allgemein durch vielfältige Zukunftsängste geprägt. Da bleibt wenig Raum für Empathie mit Strafgefangenen. Was derzeit völlig fehlt, ist die rationale Einsicht, dass es bei der Resozialisierung nicht um Wohltaten für Straftäter, sondern einen möglichst wirksamen Schutz für künftige Opfer geht, den man mit allen Kräften anstreben muss. Vernünftiger Resozialisierungsvollzug bedeutet also auf Dauer ein Mehr an Sicherheit für die Bevölkerung, was kein Verwahrvollzug leisten kann. So gesehen ist der Justizsenator zum Sicherheitsrisiko für Hamburg geworden.
Welche Beispiele für aktuelle Missstände im Strafvollzug sind Ihnen als Richter in einer Strafvollstreckungskammer des Landgerichts bekannt?
Hier ist zunächst auf den Abbau des offenen Vollzuges um über 70 Prozent in den letzten Jahren hinzuweisen. Zugleich sind Vollzuglockerungen um mindestens 40 Prozent reduziert worden. Besuchsmöglichkeiten sind abgebaut worden, Lehrer-, Sozialpädagogen- und Psychologenstellen verringert worden und die Behandlung drogensüchtiger Gefangener liegt weiterhin im Argen. Es sind weder genug Drogenberater im Gefängnis, noch können selbst Gefangene, bei denen eine Flucht- oder Rückfallgefahr nicht vorliegt, draußen eine ambulante Therapie machen, weil sie generell als ungeeignet für den offenen Vollzug angesehen werden. Wohnungs- und Arbeitssuche aus dem Vollzug sind weithin zum Erliegen gekommen. Einen unglaublichen Fall hat mir der zuständige Betreuer der Agentur für Arbeit berichtet: Danach ist kürzlich ein Gefangener in Hand- oder Fußfesseln zur Vorstellung bei seinem künftigen Arbeitgeber ausgeführt worden. Das Ergebnis dieser Vorstellung können Sie sich vorstellen!
Einige Maßnahmen des Strafvollzuges sollen gerade vor Gericht gekippt worden sein.
Es gibt gerade in jüngster Zeit eine breitere Palette von Entscheidungen, in denen der Vorrang des Resozialisierungsvollzuges gerichtlich bestätigt wird und in denen rechtswidrig-schuldhaftes Verhalten des Strafvollzuges festgestellt wird. Ich will an dieser Stelle nur auf zwei herausragende Fälle hinweisen, in denen Gefangenen wegen gesetzwidrigen Handelns Schmerzensgeld zuerkannt wird. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat in dem einen Fall jüngst eine schuldhafte Amtspflichtverletzung bei Doppelunterbringung in viel zu kleinen Einzelzellen der Anstalt Fuhlsbüttel mit offener Toilette und zu geringem Luftinhalt bejaht. Obwohl das Bundesverfassungsgericht dies bereits genau für diesen Fall als Verstoß gegen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes gebrandmarkt hatte, hat sich Herr Dr. Kusch alsbald nach seinem Amtsantritt sehenden Auges darüber hinweggesetzt und erneut derartige verfassungswidrige Doppelbelegungen vornehmen lassen.
Worum geht es in der anderen Entscheidung?
Darin geht das Landgericht Hamburg in einem Prozesskostenhilfebeschluss von einer offensichtlich rechtswidrigen und schwer schuldhaften Handlungsweise des Vollzuges aus, weil Gefangene nach den Unruhen in der Anstalt Fuhlsbüttel vom 14. bis 17. Dezember 2003 für rund 60 Tage innerhalb der Anstalt total weggeschlossen worden sind. Danach kommt ein Schmerzensgeld von bis zu 4.570 Euro in Betracht, wobei erschwerend hinzukam, dass der Vollzug sich geweigert hatte, gerichtliche Anordnungen zur sofortigen Aufhebung dieser Maßnahme zu befolgen. Bei der Staatsanwaltschaft Hamburg wird meines Wissens derzeit geprüft, ob der von der Anstaltsleitung rechtswidrig schuldhaft angeordnete Wegschluss der Gefangenen einen Straftatbestand erfüllt.
Wie ist die Lage in den Haftanstalten?
Zurzeit herrscht in den Anstalten eine „eiserne Ruhe“. Es ist aber zu besorgen, dass sich dort ein erhebliches Gefahrenpotential aufbaut. Der Unmut der Gefangenen staut sich unter immer weiter gehenden Restriktionen zunehmend auf und es besteht die Gefahr, dass es wie bei einem Überdruck im Dampfkessel zu einer Explosion kommt, wobei Tätlichkeiten gegenüber Bediensteten oder gar Geiselnahmen nicht auszuschließen sein werden. Mauern und moderne Elektronik mögen äußere Sicherheit schaffen. Innere Sicherheit entsteht aber nur, wenn Bedienstete und Gefangene konstruktiv zusammenarbeiten, wie es ein gesetzmäßiger Vollzug vorsieht. Zutreffend hat Herr Neuenhüsges, der Landesvorsitzende des Verbandes Strafvollzugsbediensteter jüngst darauf hingewiesen, dass die Motivation unter den Strafvollzugsmitarbeitern auf dem Nullpunkt ist. So wird nach seinen Worten die wichtigste Ressource für einen auf Recht und Vernunft zu gründenden Strafvollzug vernichtet.
Das Interview ist im Mai 2005 in der Szene Hamburg erschienen.
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