Das bewegte Leben von Eduard Kubiak, der in dem untergegangenen Stadtteil neben den Auswandererhallen aufwuchs. Von Matthias Greulich
Oma Teofila wollte nicht mehr weiter nach Amerika. So blieb Familie Kubiak aus Westpreußen auf der Veddel hängen, gerade mal einen Kilometer entfernt von den Auswandererhallen, wo Tausende auf die Überfahrt nach Amerika warteten. 1915 wurde Eduard Kubiak als jüngstes von sieben Kindern geboren. Bis zu seinem Tod im November 2012 lebte er in einer Seniorenresidenz in Wedel. Bei unserem Gespräch im Winter 2011 erinnerte sich der damals 96-Jährige noch genau: „Ich habe die Auswanderer auf der Veddel spazieren gehen sehen. Sie waren sehr fein angezogen.“
Die Kubiaks, allesamt gläubige Katholiken, wuchsen in „Klein St. Pauli“ auf, wo Seeleute ihre Heuer in 36 Amüsierlokalen direkt neben den Elbbrücken auf den Kopf hauen konnten. Das quirli- ge Viertel war eine Hochburg der SPD. „Es gab keine reichen Leute auf der Veddel. Bis auf den Uhrmacher Klatt, dessen Dackel mir Angst machte, wenn er an mir vorüber ging“, so Kubiak.
Die Fahrt mit der Straßenbahn kostete 15 Pfennig, umsteigen fünf Pfennig zusätzlich. Eduard Kubiak weiß das heute noch genau: Sein Vater Josef war Straßenbahnschaffner. „Anfangs waren die Wagen noch offen. Mein Vater trug Holzpantinen, wenn es kalt wurde.“
Die Katholiken auf der Veddel trieben beim SC Hermannia Sport. Eduard Kubiak spielte dort Fußball, („Ich war keine Leuchte“) und wurde dann Schiedsrichter. Mutter Josefina und Großmutter Teofila sprachen in der Wohnung am Sieldeich nur polnisch, „wir anderen alle deutsch“, erinnert sich Kubiak. Beim Spielen auf der Straße schnackten alle Kinder Platt, in der Volksschule mussten sie den Lehrern auf Hochdeutsch antworten. „Sonst gab es Ohrfeigen.“
Je älter Kubiak wurde, desto häufiger spielte sich das Leben auf der anderen Elbseite in Rothenburgsort ab, wo er am Bullenhuserdamm zur Schule ging. Das Veddeler Freibad an den Elbbrücken wurde geschlossen, die Straßenbahnlinie 23 mit Endhalt Tunnelstraße eingestellt. Die Nazis nutzten die Erweiterung des Hafens, um Wohnungen abzureißen. Die enge Arbeiter-Hochburg, wo „sonntags in der ,Gaststätte Rabe’ eine ,Zigeuner-Kapelle‘ spielte“, war ihnen zuwider.
In der Familie Kubiak hielten sie als treue Wähler der Zentrumspartei, dem Vorläufer der heutigen CDU, deutlich Abstand zu den neuen Machthabern. Das Mutterkreuz der Nazis empfand Josefina als Beleidigung. „Sie schmiss es wütend in eine Ecke.“
In den Auswandererhallen war nun die SS-Standarte „Germania“ stationiert. Sie bewachte das Hamburger Rathaus, den Wachwechsel bekam die ganze Veddel mit. „Mittwochs und freitags marschierten 30 SS-Männer in ihren schwarzen Uniformen nach Norden“, erinnert sich Kubiak.
Ein Teil der Familie war um die Jahrhundertwende nicht bei Oma Teofila auf der Veddel geblieben. „Wir bekamen später Pakete aus Chicago von ihnen.“
Im Zweiten Weltkrieg war Kubiak bei der Marine. Als der Krieg fast zuende war, verschlug es ihn mit seiner Einheit nach Triest. Dort hatten sie zwar Autos, aber kein Benzin mehr. Als sie Pferde kauften, gab es kein Futter. „Es hatte doch alles keinen Sinn. Ich habe mich mit meinen Männern bei den Neuseeländern ergeben.“ Anfang 1945 wurde die ostitalienische Stadt von den Alliierten eingenommen, die deutschen Marinesoldaten kamen in ein Lager nach Ägypten.
Kubiak, als Fußballer mäßig talentiert, hatte beim katholischen SC Hermannia auf der Veddel begonnen, Jugendspiele zu pfeifen. „Meinen Schiedsrichter-Ausweis trug ich in der Brieftasche. Als die Engländer einen Referee suchten, habe ich mich sofort gemeldet.“ Noch wertvoller als die Kenntnis der Fußball-Regeln war das Schulenglisch, das er mit zehn Jahren auf der Schule Bullenhuser Damm bei der Lehrerin Fräulein Rubbert gelernt hatte. Kubiak frischte es durch tägliche Nachhilfestunden eines Mitgefangenen auf, der Englischlehrer in München gewesen war. Schließlich wurde er Dolmetscher. „Any complaints?“, war der häufigste Satz, den er übersetzen musste. „Irgendwelche Beschwerden?“
Nach fast drei Jahren in Gefangenschaft kehrte Eduard Kubiak 1948 auf die Veddel zurück. Weil er eine kaufmännische Ausbildung gemacht hatte, fand er eine Stelle in der Justizbehörde. Mit einigen Kollegen besuchte er ein Spiel eines benachbarten Fußballklubs, der sein Stadion damals an der Glacischaussee hatte. „Nach dem Krieg begann meine Liebe zu St. Pauli“, sagt Kubiak, in dessen Zimmer in der Seniorenresidenz in Wedel heute ein Wimpel der Braun-Weißen hängt. Immer stand er hinter dem Tor. „Dort wurde Platt gesprochen. Es waren Hafenarbeiter im Stadion. Das erinnerte mich an die Alte Veddel.“
Der gläubige Katholik war später noch einmal in Italien. Als Pilger besuchte er Rom. „Als wir 1945 mit dem Zug in kaputten Eisenbahnwaggons nach Süden fuhren konnte ich die Umrisse des Petersdoms sehen. Ich dachte: ,Da willst du noch einmal hin.’“ 1975, es war ein Heiliges Jahr, erfüllte er sich den Wunsch nach einer 24-stündigen Zug- fahrt.
Die Alte Veddel
Eduard Kubiak wuchs als jüngstes von sieben Kindern am Sieldeich auf der alten Veddel auf. Sein Vater Josef war Straßenbahnschaffner. Die Kubiaks waren um die Jahrhundertwende aus Westpreußen auf die alte Veddel gekommen. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, in die USA auszu- wandern.
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